Zur Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, musste ein armer Junge hinausgehen und Holz auf einem Schlitten holen. Wie er es nun zusammengesucht und aufgeladen hatte, wollte er, weil er so erfroren war, noch nicht nach Hause gehen, sondern sich erst Feuer anmachen und ein bisschen wärmen. Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden aufräumte, fand er einen goldenen Schlüssel.
Nun glaubte er, wo der Schlüssel wäre, müsste auch das Schloss dazu sein, grub weiter und fand ein eisernes Kästchen; ei, dachte er, wenn der Schlüssel nur passt, denn es waren gewiss wunderbare und köstliche Sachen darin. Er suchte, aber es war kein Schlüsselloch da, endlich fand er doch noch ein ganz kleines, und probierte, und der Schlüssel passte gerad, da drehte er ihn einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen hat, dann werden wir sehen, was darin liegt. (Grimmsches Märchen Bd. II, Nr. 70, 1814, Urtext)
W a r t e n, bis er vollends aufgeschlossen hat! Seltsam, oder? – Mit seinem jähen Schluss fordert das Märchen uns doch geradezu auf, den Schlüssel weiterzudrehen, nachdem wir ihn mit unserer Lektüre, mit der Aneignung des Textes selber einmal herumgedreht haben. Also warten ja, aber nicht im Sinne von Zeit-Totschlagen, sondern im Sinne von Hegen und Pflegen intuitiver Hingabe an die Erzählung!
Der Held selber, der arme Junge sein! so doch des Märchens Wille. Sich gleich jungen oder jung gebliebenen Menschen mutig hinauswagen in eine feindliche Welt, in frostiges Ungemach und dort (inspirierendes) Holz zusammensuchen! (vgl. Joh.-Offb. 2,7 / Urtext!) Oder wie es im Buch Dzyan, Theogenesis (Gottwerdung) heißt: „Gehet aus, um Brennholz zu sammeln, und legt die Feuer zurecht!“ Also Ausschau halten nach inspiriertem Schrifttum, erhebender Musik, hehrer Malerei, heiliger Architektur und eben auch nach einem Märchen wie dem unsrigen! Und zunehmend deren sprühendes Geistesfeuer empfangen, damit es uns warm wird um Herz und Gemüt. Wie der Junge arm sein, leer von Egoballast, frei für hohe Inspiration!
Wenn wir so vor Ort stets den Schnee von gestern wegscharren, mit Vorurteilen und erstarrten Standpunkten aufräumen, d.h. dem Märchen über einen kindlichen Unterhaltungswert hinaus versiegelte Wahrheit zugestehen, dann lässt sich der goldene Schlüssel finden, der den suchenden Blick richtet auf ein zugehöriges Schloss. Wir entdecken ein Kästchen aus Eisen, aus einem Stoff, den der Rost frisst.
Der goldene Schlüssel und ein eisernes Kästchen, ein Sinnbildpaar, das einerseits auf die Beständigkeit der rein geistigen Welt hinweist, andrerseits auf irdische Vergänglichkeit? Und wir, etwa selber das Kästchen des Märchens? Eine vergängliche Erdenform mit wunderbaren und köstlichen Sachen darin? Kein Kasten, ein Kästchen! An dem es ein ganz kleines Schlüsselloch zu entdecken gilt, in das der goldene Schlüssel gerade passt!
Während man heute weltweit auf wachsende Größe, Menge und Masse setzt wie z.B. in Industrie, Wirtschaft und Politik, wandte sich bereits in den 1970er Jahren entschlossen gegen den zerstörerischen Gigantismus der Deutsch-Engländer E. F. Schumacher mit dem literarischen Weckruf „Small is Beautiful – Die Rückkehr zum menschlichen Maß“, der allerdings ungehört verhallte.
Aber der Schein trügt. Wie der Verfasser von „klein gleich schön“ vertrauen heute zunehmend Menschen dem eigenen Gewissen, dem goldenen Bewusstseinsschlüssel, entdecken so in ihrem Innern ein wunderbares und köstliches Potenzial und setzen es verantwortungsbewusst regional wie dezentral im Einklang mit der Schöpfung ein, oft ohne Aufhebens, eingedenk der christlichen Evangelien-Weisheit „klein ist groß“. (vgl. Luk. 9,46-48)
Auch wir beide suchen uns stets des lichten Gewissensschlüssels zu bedienen und auf diese Weise das unserem Dasein innewohnende Leistungspotenzial zu ergründen, mit dessen Hilfe wir am Ende zu vorliegender Märchendeutung gelangten.
Mit ihr wollen wir einen Anstoß geben, bei aller Anregung von außen sich persönlich auf den Lichtweg der Erkenntnis zu machen und eigenständig Antwort zu finden auf ernste Lebensfragen wie etwa, was es in unserem Märchen noch auf sich haben könnte mit dem Schlitten als gleitendem Transportgefährt, mit dem festen Glauben, wo der goldene Schlüssel, dort das zugehörige Schloss oder mit der nachhaltig grabenden Tätigkeit selbst.
Wie unser versiegeltes Märchen „Der goldene Schlüssel“, wie hohes Geistesgut an sich stets entschlüsselnder Erfassung harrt, so tut es wohl unser Schicksal ebenfalls. Vor allem dann, wenn Leid zum Trauma wird: Warum wir? Warum gerade ich? – Die Joh.-Offb. fasst unser aller sittlich und geistig höher führendes Schicksal in „ein 7fach versiegeltes Buch des Lebens, welches allein ein Lamm zu öffnen weiß“, wobei es doch sonnengleich um lichte, ungetrübte Lammesgeduld gehen dürfte.
Empfange Leben von der Sonne,
sie offenbaret Gottes Kraft.
Verspüre heil’ge Wonne,
die der Seele Stärke schafft.